KiG! Kultur in Graz

´^` zurück ! neu... * alle kategorien

senta bremstein keppelt:

String-Theorie statt String-Tanga. Zu den wirklich wichtigen Dingen des Lebens. Gegen die Dauerbeschäftigung mit der Körperlichkeit

Körperkult
Wer hat zumindest noch hin und wieder intellektuelle Ressourcen frei, wenn wir durch den Dschungel der unnützen Informationen navigieren, die uns tagtäglich umzingeln? Bombardements von Werbeplakaten, Internetanzeigen, vermeintlichen Gesellschaftsberichten in allen Medien inklusive schleißiger Boulevard-TV-Formate, die uns mit den sogenannten Promis auch noch gleich die optischen Vorbilder zum total suprigen Leben liefern. Dazu gehören gerade Pseudo-Diskussionen zum leidigen Thema "Wieviel mager ist bei kleidervorführenden Mädchen noch normal?" Fällt es uns noch auf, dass wir zu einem Großteil mit Themen zur Körperlichkeit und Ästhetik zugetextet und bildüberschüttet werden, auch durch jene, die das angeblich anprangern, während daneben die Werbebanner für genau das Gegenteil aufblinken? Bewirkt dieser mediale Overload nicht gerade eine Gewöhnung an die z.B. unnatürliche Dünnheit und trägt damit zur Normalisierung dieser körperlichen Erscheinungsform bei?

Schablonen
Und überhaupt: Wer ist je auf die Idee gekommen, dass knochige Mädchen als generelles Muster "für die Frau" geeignet sind? Was mag es bringen, wenn sich die Frauen und mittlerweile auch immer stärker die Männer an unerreichbaren optischen Schablonen orientieren und vergessen, dass sie auch ein Hirn haben oder dass ihr Leben eigentlich gar nicht so übel ist? Ich möchte heute nicht mehr 14 sein, ausgeliefert den retuschierten Hochglanzillusionen, gelobt für jedes verlorene Kilo und die Erhaltung der Dünnheit, verlacht, ausgegrenzt für jedes Babyspeckerl. Ich will keine Gespräche in der Straßenbahn hören, wie: "Da schau, wie sie herumlaufen, die Junkfood-Gören. Fett. Oder zu dürr. Aber immer noch besser als zu fett." Wenn sich alles nur mehr um Körperlichkeit, um Ernährung, Aussehen und optische Verhüllungen dreht, bleibt oft kaum noch Platz für andere Themen. Wem nützt dies? Die Industrie und die Werbung verdienen an der Tatsache, dass unzufriedene Menschen einkaufen, um sich besser zu fühlen. Also müssen den Menschen immer unerreichbarere Ziele vor die Nase gehalten werden, wie dem Esel die Karotte. Damit es läuft. Und wenn wir schließlich alle um uns selbst rotieren, sind wir permanent beschäftigt und als kritische Stimme, die sich bezüglich vieler gesellschaftlicher Themen zu Wort melden könnte, ruhig gestellt.

Content
Nennt mich naiv, aber ich will lieber über die String-Theorie als Weltformel sprechen, als darüber wem den nun wirklich ein String-Tanga passt. Ich will über prekäre Arbeitssituationen sprechen und nicht über Körper und deren Accessoires. Ich will oberflächliches Gewäsch mit einer bestimmenden Geste wie einen Krümel vom, mit Genußmittel vollbeladenen Tisch wischen, wenn ich in einer netten Runde sitze. Kurz anmerken, dass die meisten Menschen als Original geboren werden, ihr ganzes Leben danach trachten, anders zu werden und schließlich als Kopie sterben. Und dann würden wir Gutmenschen endlich darüber sprechen, was es langfristig für die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte bedeutet, dass die regierungskritische russische Journalistin Anna Poltikowskaja nach jahrelangen Morddrohungen in ihrer Wohnung in Moskau ermordet wurde. Und warum darüber nur wenige Wochen danach kaum jemand mehr spricht. ...

[Kolumne/Senta Bremstein/13.11.2006]